Wir schlenderten am Abend die Via del Corso hinunter, eine Fußgängerzone mit vielen Geschäften. Dann, einfach so, bogen wir in eine Seitengasse ein, und nach zirka hundert Metern stand ich vor einem Eingangsportal, das meine Aufmerksamkeit erregte. Es wirkte heruntergekommen, doch im Schaukasten an der Seite wurde ein Konzert mit Ennio Morricone´s Filmmusik angekündigt, dirigiert von seinem Sohn Andrea. Ich blickte nach oben. Tatsächlich, ich stand vor dem Eingang in die Accademia di Santa Cecilia, jenem Musikkonservatorium, das inklusive seinem Professor Petrassi Ennio Morricone so geprägt hatte.
Gerade läuft in den Kinos „Il Maestro“, eine Doku über Morricone von Oscar-Preisträger Giuseppe Tornatore, die dies sehr gut und genau zeigt. Und hier in der Accademia di Santa Cecilia wurde auch 1998 mit dem Orchester und Chor der Accademia erstmals das „Cinema Concerto a Santa Cecilia“ aufgenommen. Das Schicksal führte mich hier her, ohne dass ich diesen Ort gesucht hätte. Zirka zwei Monate nach dieser Aufnahme gab es das erste Live-Konzert mit Ennio Morricone, im Garten der Villa Giulia in Rom, im Herbst 1998. Und ein Jahr später, 1999, folgte das zweite Live-Konzert mit Ennio Morricone und das einzige, in dem auch Ausschnitte aus den dazugehörigen Filmen gezeigt wurden, bei uns in Linz. Ich stand im Portal der Accademia di Santa Cecilia und war darauf mächtig stolz.
Am nächsten Tag waren wir auf dem Weg ins antike Rom. Wir bewunderten das Kolosseum, und gingen weiter durch das Forum Romanum. Ich suchte mit meinen Augen die angrenzenden Häuserfronten ab, nach jenem Blick, der sich aus Morricone´s Arbeitszimmer geboten hatte. Wir saßen damals zunächst auf einer Couch in einem der Wohnzimmer von Morricone, mit seinem Manager, warteten auf ihn. Dann kam er, leger in einer schwarzen Jogging-Hose bekleidet. Bevor Betriebsrätin und Kundenvertreter eintrafen, zeigte er uns, mir und meiner italienisch-sprechenden Mitarbeiterin, sein Arbeitszimmer. Es war genauso wie es im Dokufilm „Il Maestro“ gezeigt wird. Partituren lagen in Stapeln kreuz und quer, dazwischen Notenblätter, es roch nach Papier, eine chaotische Ordnung. Dann kamen die Linzer. Er brachte widerwillig einen alten ledernen Koffer in den Raum, und schleuderte ihn vor ihre Füße auf den Boden, öffnete ihn, gab ihnen einige Notenblätter. Die Betriebsrätin nickte zufrieden. Mir war es schrecklich peinlich.
Jetzt, auf dieser Reise, wollte ich es wiederfinden, dieses Penthouse von Morricone. Ich durchsuchte nochmals intensiv das Internet, und wurde fündig. Seine vier Kinder beauftragten nach seinem Tod das Auktionshaus Christie´s mit dem Verkauf der riesigen Wonnung, um kolportierte 12 Millionen Euro. Mit einem sensationellen Blick aus dem Arbeitszimmer, durch drei große Eckfenster, auf den Altar des Vaterlandes, das Kapitol und das Forum Romanum. Wenige Stunden später stand ich auf der Piazza Venezia, direkt vor diesem Eckhaus, an diesem außergewöhnlichen Ort. Es handelte sich um den ehemaligen Palazzo Muti Bussi, der Ende des 15. Jahrhunderts von Giacomo Della Porta entworfen wurde, jenem Architekten, der auch die Kuppel des Petersdom schuf. Hier hatten wir angeläutet und fuhren mit dem Lift ins Penthouse von Morricone. Vor 24 Jahren.
Einen Abend hatten wir noch in Rom. Ich fragte Gianfranca, die Rezeptionistin, nach einem traditionellen Restaurant in Trastevere. Trattoria Trilussa, sagte sie, sie wird uns einen Tisch reservieren. Später im Laufe des Tages bekam ich ein WhatsApp von ihr, dass dies erst ab 22:00 Uhr möglich wäre. Das war uns zu spät. Ein anderes? Si, Ghecco er Carettiere. Ok, bitte reservieren, schrieb ich zurück, und es klappte.
Wir spazierten also abends entlang des Tiberufers bis nach Trastevere, flanierten durch das Viertel, mit seinen lebendigen Gassen, und fanden schließlich mit Google Maps das Restaurant. Ghecco er Carettiere wirkte sehr traditionell, von außen unscheinbar, kaum beschriftet. Wir gingen hinein. Si, es gibt die Reservierung, er setzte uns ins hinterste Eck. Man hatte zwar den ganzen Saal im Blick, trotzdem, ich war ein wenig enttäuscht über den Tisch. Erst später verstand ich, was das für ein Glücksfall war. Ein alter Kellner bediente uns, Domenico, den Namen erfuhr ich erst später. Wir bestellten, nicht wie die üblichen Touristen, sondern so wie die Römer: Artischoken a la romana, Pasta Cacio e Pepe, dann Fisch. Das gefiel Domenico, wir wurden vertrauter, und einfach so fragte ich, ob er Ennio Morricone kenne, ob er einmal da war.
„Si“, sagte er ganz entspannt und ruhig, „Si, der Besitzer des Lokals ist mit ihm in die Schule gegangen!“ Was? Ok, ich erinnerte mich, dass Morricone aus Trastevere stammte, aus armen Verhältnissen. „Vieni“, sagte Domenico, winkte mich zu ihm, und wir gingen in den Raum vor dem Speisesaal, den wir beim Betreten schon durchquert hatten, ohne etwas zu bemerken.
Da hing ein riesiges eingerahmtes Foto an einer Holzwand. Die Fotografie einer Schulklasse oder einer Schule, alle in Uniform. Zu jedem Schüler war der jeweilige Name gekritzelt worden. „Das ist Morricone“ sagte Domenico, „hier Sergio Leone, und das ist der Besitzer des Restaurants, sie waren Freunde“. Darunter sah ich ein kleineres Foto, das im Rahmen des großen Fotos steckte. Es zeigte eine Runde älterer Herren, Ennio Morricone und Sergio Leone konnte ich darauf erkennen. Daneben ein Zeitungsausschnitt, es dürfte sich um ein Klassentreffen gehandelt haben, das auch Medienecho hervorrief.
Ich war geflasht, unglaublich, was für ein Zufall! Wir gingen zurück zum Tisch, freuten uns auf den Fisch in Limonensauce. Dann kam Domenico, schenkte mir Rotwein ein. Ich fragte wieder: „Und der Besitzer? Lebt er noch?“ „Leider nein“, sagte Domenico, „aber seine Tochter führt jetzt das Restaurant“. Bevor ich darauf antworten konnte, war er weg und schon wieder zurück, mit Stefania, der Tochter des Besitzers.
„Ich liebe diese Trattoria. Genau wie mein Vater will ich die Tradition der einfachen römischen Küche erhalten, das ist nicht Arbeit für mich, das ist mein Baby“, erklärte mir Stefania mit leidenschaftlicher Stimme. „Ennio, er hat diese Küche geliebt“.
Ohne es anzusprechen, gingen wir einfach wieder gemeinsam zu diesem Klassenfoto, an der Holzwand hinter dem Stammtisch. „Ich habe dieses Foto schon einmal gesehen“, sagte ich, „es gibt da diesen Film, „Il Maestro“. „Si“, fiel sie mir ins Wort, „ich war in diesem Film, habe gesprochen, auch das Foto wurde gezeigt“. Nochmals zeigte sie mir Morricone, dann ihren Vater. „Sie waren Freunde“. Ich war begeistert, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Überglücklich flog ich nach Hause zurück. Bis er am Ende seiner Karriere die wohlverdienten Oscars bekam, war Morricone ein Weltstar, den niemand kannte. Er war als Mensch und Künstler sehr zurückhaltend gewesen. Mit den Oscars, und insbesondere mit seinem Tod, hatte sich dann in der Öffentlichkeit alles geändert. Rom, ja ganz Italien, entdeckte ihr neues Idol. Für mich war er das schon lange bevor. Ich bewunderte Morricone, seit meiner Jugend, als ich erstmals Schallplatten mit seinen Italowestern-Melodien hörte, dann diese im Kino klangvoll sah, und später als ein Traum in Erfüllung ging, nämlich Ennio Morricone persönlich zu treffen, ja mit ihm sogar zu arbeiten. Ich verbrachte intensive sieben Tage mit Morricone in Linz, lernte von ihm enorm viel. Es war die Qualität, Präzision und Perfektion, die mich faszinierte und mich prägte. Und jetzt, diese Begegnungen. Auf den Spuren von Morricone geleitet zu werden, ohne es geplant zu haben. Eine ewige Erinnerung an eine vom Schicksal geführte Reise.
Es war einmal in Rom…
Hallo Rudi, Hallo Gabriele!
Toller Reisebericht aus Rom mit schönen Fotos. Ihr habt in Rom sicherlich
auch eure persönlichen Spuren hinterlassen……
Wir freuen uns schon auf die nächste Geschichte!
Gruß Gisela & Bruno
Eine wunderschöne Geschichte, eine große Bereicherung solche Begegnungen zu erleben…
Ich liebe Rom, war schon einige Male dort…. und werde wieder kommen!